Bundesverfassungsgericht erklärt § 362 V StPO für verfassungswidrig

von Henning Albers // Juristischer Mitarbeiter // Kanzlei am Südstern

 

» Da waren es nur noch vier: Das Bundesverfassungsgericht hat am 31.10.2023 (2 BvR 900/22) den erst Ende 2021 von der großen Koalition eingeführten § 362 Nr. 5 StPO für verfassungswidrig erklärt.

Diese Norm ermöglichte es, dass rechtskräftig freigesprochene Angeklagte erneut der Prozess gemacht werden konnte, sofern neue Beweismittel auftauchten, die bezeugen dass der freigesprochene Angeklagte sich wegen Mordes, Völkermordes, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen strafbar gemacht hat.

 

Verfassungsrechtlicher und historischer Hintergrund

Im Mittelpunkt steht der schon im römischen Recht etablierte Rechtsgrundsatz „ne bis in idem“, der sich im strafrechtlichen Doppelbestrafungsverbot des Art. 103 III GG wiederfindet.

Demnach darf niemand wegen derselben Handlung zweimal bestraft werden. Dem Wortlaut der Norm nach lässt diese keinen Spielraum. Dennoch führte die Große Koalition Ende 2021 den damals schon umstrittenen § 362 Nr. 5 StPO ein, u.a. nach Forderungen dazu aus der Gesellschaft.

Die mit dem vorliegenden Fall betrauten Bundesverfassungsrichter hatten nun die Aufgabe, ob § 362 V StPO eine zugunsten der materiellen Gerechtigkeit (noch) zulässige Ausnahme von diesem Verfassungsgrundsatz sei oder gegen eben diesen verstößt und damit verfassungswidrig sei.

 

Uneinigkeit bei Fraktionen und im Senat

An dieser Frage schieden sich auch die Geister der Parteien.

Während die Fraktionen der Grünen und FDP sich dafür aussprachen, dass § 362 Nr. 5 StPO wegen Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 3 GG und das in Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG wurzelnde Rückwirkungsverbot verfassungswidrig sei, waren CDU/CSU und SPD anderer Ansicht.

Die CDU/CSU-Fraktion argumentierte, dass der Art. 103 Abs. 3 GG entschieden. Seine Kerngewährleistung verbiete eine doppelte Bestrafung und eine Strafverfolgung zum Zweck einer doppelten Bestrafung. Er umfasse jedoch kein generelles Verbot mehrfacher Strafverfolgung.

Die SPD-Fraktion sah ebenfalls kein generelles Verbot mehrfacher Strafverfolgung.

Doch auch im zuständigen zweiten Senat gab es Dissens: Die Richter Müller und Langenfeld gaben Sondervota ab. Sie sahen schwerlich auflösbare Wertungswidersprüche. Als Beispiel gaben sie an, dass nun „ein Freigesprochener, der in einem Wirtschaftsstrafverfahren von einer gefälschten Urkunde profitiert hatte (die er noch nicht einmal selbst gefälscht haben muss), sich einer erneuten Anklage stellen muss, dagegen aber nicht jemand, der in einem Verfahren wegen Mordes durch ein molekulargenetisches Gutachten der Täterschaft überführt wird.“ (https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2023/bvg23-094.html).

 

Urteil des zweiten Senats

Die anderen sechs Richter schlossen sich dieser Ansicht nicht an:

Für sie enthält das grundrechtsgleiche Recht des Art. 103 Abs. 3 GG kein bloßes Mehrfachbestrafungsverbot, sondern ein Mehrfachverfolgungsverbot, das Verurteilte wie Freigesprochene gleichermaßen schützt.

Damit hat der zweite Senat der damaligen Großen Koalition eine deutliche Absage erteilt.

Ob sich in der Zukunft nochmal ein Gesetzgeber traut, diese Norm anzufassen, bleibt zu bezweifeln.

 

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